Vom 11. bis 14. September 2025 wird in Berlin eine Konferenz stattfinden, die sich auf den ersten Blick wie ein medizinischer Fachkongress anhört. Der Titel der Konferenz lautet „Youth Gender Distress: Etiologies, Ethics, Evidence, and Psychotherapy“ und wird von der „Society for Evidence-Based Gender Medicine“ (SEGM) veranstaltet. Bei genauerem Hinschauen wird jedoch erkennbar: Hinter dem scheinbar neutralen Titel verbirgt sich eine Plattform für trans*feindliche Positionen und pseudowissenschaftliche Argumentationen.
Die SEGM gibt vor, objektive Forschung zu präsentieren. Es werden jedoch Falschinformationen verbreitet, die keine evidenzbasierte Grundlage haben, auch wenn die Vorträge wissenschaftlich klingen mögen. Das Ziel, das verfolgt wird, ist: Zweifel an der Identität von trans* und nicht-binären Menschen zu säen, medizinische Unterstützung für Jugendliche zu diskreditieren – und damit letztlich grundlegende Menschenrechte in Frage zu stellen.
Die geladenen Sprecher*innen sind bekannt für ihre problematischen Thesen. Einige von ihnen stellen offen in Frage, ob es Geschlechtsidentität überhaupt gibt. Andere propagieren wissenschaftlich längst widerlegte Theorien wie die der „Autogynophilie“, die den Transitionswunsch von trans* Frauen als Fetisch darstellt. Viele ihrer Aussagen wurden von medizinischen Fachgesellschaften und Ethikräten als entmenschlichend und pseudowissenschaftlich kritisiert.
Mari Günther, Fachreferentin für Beratungsarbeit und Gesundheitsversorgung beim BVT* sagt dazu: „Diese Konferenz ist keine Plattform für offene Debatte. Sie ist ein Versuch, die öffentliche Meinung zu kippen – auf dem Rücken von Kindern und Jugendlichen, die bereits jetzt mit Diskriminierung, Ausgrenzung und psychischer Belastung kämpfen. Studien belegen: Zugang zu geschlechtsaffirmativer Medizin kann Leben retten. Und doch wird hier suggeriert, dass genau dieser Zugang gefährlich sei. Das ist keine Wissenschaft – das ist falsch und verantwortungslos. Hier sollen gezielt Zweifel an geschlechtlicher Selbstbestimmung und wissenschaftlich basierter medizinischer Versorgung geschürt werden.“
Die Beteiligten an der Konferenz ignorieren aktiv den wissenschaftlichen Stand zum Thema medizinische Versorgung von trans* und nicht-binären Personen: Weder die Richtlinien der World Professional Association for Transgender Health (WPATH) noch die Inhalte der deutsch-sprachigen Behandlungsleitlinien für Erwachsene sowie Kinder und Jugendliche (der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) werden in den Inhalten der Konferenz abgebildet.
Mari Günther sagt hierzu weiter: „Wir nehmen bei vielen Menschen eine Verunsicherung wahr, wenn es um die Gesundheitsversorgung von trans* und nicht-binären Menschen und insbesondere um Kinder und Jugendliche geht. Ursprung ist hier aber nicht etwa eine unsichere wissenschaftliche Basis für die Behandlung, sondern die Funktionsweise des öffentlichen Diskurses: Um ihrem Neutralitätsanspruch Rechnung zu tragen, stellen viele Medien in ihren Berichten pro und contra zu einem Thema dar. Bei vielen Themen ist dieser Ansatz korrekt, da diese beiden Seiten oft gleichberechtigt nebeneinander stehen. Wenn jedoch auf diese Weise über die Gesundheitsversorgung von trans* und nicht-binären Kindern berichtet wird, entsteht ein verzerrtes Bild: Wissenschaftlich fundierte Behandlungsformen werden mit der Meinung Einzelner gleichgestellt. In der Berichterstattung sollten unterschiedliche Perspektiven jedoch nicht nur abgebildet, sondern auch kontextualisiert und gewichtet werden. Es muss sichtbar werden, welche Position wissenschaftlich fundiert ist und welche eine Außenseitermeinung darstellt.“
Um den pseudowissenschaftlichen Argumentationen wissenschaftsbasierte Fakten entgegenzusetzen, findet am 17.09.2025 von 14 bis 17 Uhr ein Symposium zum Thema der leitliniengerechten Behandlung von Geschlechtsinkongruenz im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter statt. Veranstaltungsort ist der Festsaal der Kliniken im Theodor Wenzel Werk (TWW) in Berlin-Zehlendorf. Die Veranstaltung kann vor Ort besucht oder im Live-Stream verfolgt werden. Weitere Informationen zum Symposium finden sich hier.
Anmeldung ist möglich per E-Mail unter psychiatrie@tww-berlin.de
Hintergrund:
Die SEGM wurde 2019 gegründet und tritt unter dem Anspruch auf, eine evidenzbasierte Debatte über geschlechtsbezogene medizinische Behandlungen, insbesondere bei Jugendlichen, zu fördern. Der Name der Organisation erinnert an medizinische Fachgesellschaften, was nach Einschätzung vieler Kritiker*innen jedoch irreführend ist. So wird SEGM vom renommierten US-amerikanischen Southern Poverty Law Center (SPLC) als Anti-LGBTQIA+-Hassgruppierung eingestuft.
Laut SPLC verbreitet SEGM wissenschaftlich nicht haltbare Behauptungen und trägt zur politischen Mobilisierung gegen die Rechte von trans*geschlechtlichen Menschen bei. Die Organisation selbst weist diese Vorwürfe zurück und betont, dass ihr Ziel sei, wissenschaftlich fundierte, ethisch verantwortbare Richtlinien für medizinische Eingriffe bei Minderjährigen zu erarbeiten. Diese gibt es jedoch bereits. Weiter unten finden sich Links zur WPATH und den im Text der Pressemitteilung erwähnten deutschsprachigen Behandlungsleitlinien für Erwachsene sowie für Kinder und Jugendliche. Zudem ist dort die Empfehlung des Deutschen Ethikrates zum Thema zu finden.
Vor diesem Hintergrund stößt die Tatsache, dass die Konferenz von Institutionen wie der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) beworben wird, auf Unverständnis. Auch dass Mitglieder des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit (DZPG) Vergünstigungen für die Teilnahme erhalten, ist als problematisch einzustufen.
Wenn der „False-Balance“-Effekt vorliegt, werden zwei gegensätzliche Meinungen oder Positionen so präsentiert, als wären sie gleichwertig – obwohl es objektiv betrachtet ein klares Ungleichgewicht hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Fundierung oder gesellschaftlichen Relevanz gibt. Ziel der ausgewogenen Berichterstattung ist es grundsätzlich, unterschiedlichen Perspektiven Raum zu geben und Neutralität zu wahren. Problematisch wird dies jedoch, wenn die journalistische Balance dazu führt, dass Positionen mit geringer faktischer Basis denselben Stellenwert erhalten wie solche, die auf einem breiten wissenschaftlichen Konsens beruhen. In solchen Fällen entsteht ein verzerrtes Bild des tatsächlichen Diskussionsstandes, was bei den Lesenden den Eindruck erwecken kann, es gäbe eine offene und gleichwertige Kontroverse, obwohl diese in der Fachwelt längst entschieden ist. Wenn dieser Effekt in der Berichterstattung über die medizinische Versorgung von trans* und nicht-binären Kindern und Jugendlichen vorkommt, wird der existierende breite Konsens unter medizinischen Fachgesellschaften ignoriert.
Zum Weiterlesen:
Informationen zur WPATH – World Professional Association for Transgender Health und ihre Veröffentlichung mit dem Titel „Standards of Care for the Health of Transgenderand Gender Diverse People, Version 8“
Empfehlungen des Deutschen Ethikrats zur medizinischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen
Auch der LSVD⁺ – Verband Queere Vielfalt und die Deutsche Gesellschaft für Trans*- und Inter*geschlechtlichkeit e.V. (dgti) haben Pressemitteilungen zum Thema veröffentlicht. Diese finden sich hier:
LSVD⁺: https://www.lsvd.de/de/ct/15280-Transfeindliche-Pseudowissenschaftskonferenz-in-Berlin-geplant